Die Legende der Liste

In einer Zeit, von deren Existenz selbst die gewieftesten Archäologen und Historiker bis heute nicht die geringste Ahnung haben, existierten in einem weiträumigen Gebiet, welches heute allgemein als Mitteleuropa bekannt ist und das im Verlauf seiner bewegten Geschichte den Namen Ruhland annehmen sollte, eine durchaus kultivierte Form menschlicher Zivilisation. Diese Zeitgenossen lebten ganz ansehnlich; Architektur, Kunst und Musik befanden sich wohl etwa auf dem Stand der Epoche, welcher in der offiziellen Geschichtsschreibung allgemein als Mittelalter bekannt ist. Sehr zum Ruhm dieser Menschen ist festzuhalten, dass ihre in lockere, regional zusammengeschlossene Sippschaften gegliederte Gesellschaft bei weitem nicht dieselbe Leidenschaft für kriegerische Auseinandersetzungen an den Tag legte, wie dies die mittelalterlichen Könige und Fürsten zu tun pflegten.

Den Leser mögen Zweifel anhand dieser, zum hinlänglich bekannten Bild der menschlichen Natur in argem Widerspruch stehenden Friedfertigkeit befallen; allein die Harmonie hatte ihren tieferen Grund: Ähnlich wie bekannte südamerikanische Hochkulturen die Erfindung des Rads für vernachlässigbar gehalten hatten, unterliessen die Bewohner von Ruhland die Erschaffung des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Sie verständigten sich durch ein kompliziertes System von Blickkontakten und da betrügerische oder unehrliche Absichten Auge in Auge kaum unentdeckt bleiben, kannten die Menschen Ruhlands in diesen glücklichen Zeiten wenige Streitigkeiten und Missverständnisse.

So wären vermutlich noch weitere friedfertige Jahrhunderte gefolgt, wenn der stets um das Wohl des Menschengeschlechts besorgte Gottvater es nicht in seiner unermesslichen Güte für unabdingbar gehalten hätte, dieser analphabetischen Schande des Menschengeschlechts den Segen der Sprache zu bringen. Er scharte zu diesem Zweck 27 seiner fähigsten Engel um sich und betraute sie mit der heiligen Mission: „Meine Himmelsboten stellt euch vor: Diese unglücklichen Kinder sind so stumm, wie ich allein die Fische geschaffen habe. Wir müssen ihnen die Sprache bringen! Sie können sich ja nicht einmal ordentlich ich liebe dich sagen! – Ich hab’ mir hier ein feines Buch ausgedacht, da stehen all die wunderbaren Wörter drin, die sie Zeit ihres kurzen Lebens schmerzlich vermisst haben. So gehet und überbringet die frohe Kunde und unterweist die Menschenkinder gut, denn sie sind unwissend und vergessen schnell!“

Mit diesen Worten entliess der liebe Gott seine Engelschar, die sich nach kurzem Vertiefen in die Materie – Engel lernen ziemlich schnell – flugs auf den Weg zum blaugrünen Planet machten um ein wenig Nachhilfeunterricht zu erteilen. Das Projekt liess sich recht gut an. Die Bewohner Ruhlands waren wohl anfänglich ein wenig verstört angesichts des unerwarteten himmlischen Besuchs. Da Engel mit unendlicher Geduld gewappnet sind, erzielten die sprachlosen Menschenkinder in ansehnlicher Zeit beachtliche Erfolge im Umgang mit dem neuen Medium und die Dinge hätten sich wohl zum Guten – oder zumindest zum Vorgesehenen – entwickelt, wenn nicht das Schicksal auf seinem Vorrecht, ein Wörtchen mitzureden, bestanden hätte.

So kam es, dass sich in der Brust eines ansonsten eher unauffälligen Engels Namens Labiel, Gefühle der Kränkung und der Rachsucht breit machten. Dieser unglückliche Himmelsbote hatte das Pech, dem Makel eines Sprachfehlers zu unterliegen. Das wäre weiter nicht schlimm gewesen und hätte sich durch einen kleinen göttlichen Eingriff wohl ohne grosses Aufheben korrigieren lassen; der Stolz unseres gefiederten Protagonisten jedoch liess das Eingeständnis seiner Schwäche nicht zu. Es legte sich dieses zunehmend finsterer werdende Gemüt seine eigene Auslegung des Sachverhalts zurecht die dahin ging, seine fehlerhaften Formulierungen als die einzig wahre Sprache zu proklamieren. Wie so oft scharen solche von Hass und Minderwertigkeitsgefühlen irregeleitete Wesen erstaunlich schnell eine erstaunlich grosse Anzahl von Anhängern um sich und dass in unserem Fall der Anführer über eine zweifellos überirdische Ausstrahlung verfügte, potenzierte diesen unseligen Umstand noch. So formierte sich um den düsteren Labiel eine an Zahl und Einfluss beachtliche Vertreterschaft einer maroden Sprachauslegung die sich in zweifelhafter Interpretation des tatsächlichen Sachverhaltes den Titel „Orden des wahren Wortes“ verlieh , was in der jeden Freund sprachlichen Wohlklangs zwangsläufig beleidigenden Labiel’schen Aussprache etwa wie Ohn dä watsch woll klingt.

Wer nun glaubt, dieser fehlgeleitete Haufen hätte sich damit beschieden, sein derart unangenehm anzuhörendes Kauderwelsch in den eigenen Reihen auszutauschen, der irrt gewaltig. Angestachelt vom Ehrgeiz und dem unheilbar gekränkten Ego seines himmlischen Anführers, machten schon bald regelrechte Hetzreden die Runde. In nun immer häufiger abgehaltenen so genannten Volkstribunalen, manifestierte sich allmählich der Plan, die „Sünder des Wortes“ (Sndl Wotsch), wie die anderssprechende Bevölkerungsmehrheit tituliert wurde, zu ihrem Glück, welches nach den Vorstellungen unserer unseligen Allianz selbstverständlich darin bestehen sollte, die unappetitliche Labiel’sche Sprechweise aufgedrängt zu bekommen, zu zwingen. Diese Veranstaltungen sollten den Eindruck, den Willen einer Bevölkerungsmehrheit zu vertreten, erwecken, waren in Wahrheit aber abgekartete Aufwiegelungen gegen die Anderssprechenden, organisiert und vorgetragen vom höheren Stab der Anhängerschaft Labiels.

Zu ihrem Glück war der wohlsprechende Bevölkerungsteil Ruhlands nicht ganz auf sich alleine gestellt. Die um das sprachliche Wohl der Bewohner dieses fruchtbaren Erdteils bemühte Engelschaft war natürlich auch nicht ohne jedes Sensorium für die sich zuspitzende Sprachkrise und das eigentümliche Verhalten des Kollegen Labiel blieb ihnen nicht verborgen. Allein, das ganze Ausmass dessen Hass’ konnten sie nicht erahnen und weit wichtiger: sie wussten nichts vom beachtlichen Talent zur Intrige ihres scheinheiligen Bruders. Der hatte nämlich den beinahe teuflischen Plan ausgeheckt, das göttliche Buch zu vertauschen. Dieses bis anhin immer noch einzige Nachschlagewerk der korrekten Sprache war weit mehr als bloss ein Wörterbuch. Erst durch seine irdische Präsenz bekam die Sprache ihren Sinn; konnte das gesprochene und geschriebene Wort verstanden werden. Es war die eigentliche Seele der Sprache und konnte deshalb auch nicht durch eine beliebige Kopie ersetzt werden. Auf Grund der offensichtlich beträchtlichen Bedeutung dieser Schrift wurde sie, obgleich die Bewohner Ruhlands keinesfalls ein durch lange Kriege übermässig misstrauisch gewordenes Völklein waren, in den Tiefen des Dunkelwalds an einem nur einer handverlesenen Anzahl vertrauter Personen bekannten Ort verborgen. Diese Menschen widmeten ihr Leben dem Schutz der Sprache und hatten an diesem verlassenen, von den Bewohnern Ruhlands auf Grund überlieferter Geschichten von unheimlichen Wesen, welche hier angeblich verirrte Wanderer heimsuchten, nach Möglichkeit gemiedenen Flecken, mitten im Wald einen unterirdischen Tempel gebaut, der in seinem Innersten, umhüllt von mehreren labyrinthartig angelegten Mauern das kostbare Buch barg. An seine Stelle plante nun der gefallene Engel ein äusserlich beinahe identisches Machwerk zu setzen, dessen Inhalt jedoch von Labiel’schen Phrasierungen infiziert war und die Menschheit im sprachlichen Chaos zurückliesse. Es würde eine neue Epoche der Vorherrschaft des Haiwotsch (heiliges Wort), wie die unselige Sprachpervertierung auf Anregen Labiels nun genannt wurde, bedeuten und schon bald könnte ihn niemand mehr der fehlerhaften Artikulierung bezichtigen; ja, er wäre gewissermassen der Schöpfer einer neuen Sprache und als solcher auch deren oberste Autorität. Freilich blieb dem kranken Hirn Labiels das Wahnhafte seines Plans verborgen und so zögerte er nicht, einen eigens zum Zweck des Raubs des heiligen Buches ausgestatteten Stosstrupp auszusenden. Diese Männer, alles ehemalige Jäger oder Soldkrieger aus fernen Ländern, waren sorgfältig mit sämtlichen verfügbaren Informationen und einer, speziell auf die angsteinflössenden Gegebenheiten des berüchtigten Dunkelwalds ausgerichteten, strengen Ausbildung ausgestattet. Das drohende Unheil der Sprache begann seinen Lauf zu nehmen.

Noch ausser Reichweite dieses schnell reisenden Schattens erlebte Ruhland eine Zeit erster sprachlicher Blüte. Schulen wurden errichtet, die Poesie wagte zaghafte Gehversuche, Minnesänger jeglicher Couleur verbreiteten ihre Lieder, kurz, die Menschen erfreuten sich der neu gewonnenen verbalen Ausdrucksmöglichkeiten und niemand trauerte den beinahe schon vergessenen Augenaufschlägen vergangener Tage nach. Während die Vorbereitungen zum ersten grossen „Fest des Wortes“; für seine Zeit ein Anlass gigantischen Ausmasses, bei dem sich Wortkünstler in verschiedensten Disziplinen, aufgelockert von zahlreichen musikalischen Darbietungen und unzimperlichen Trinkgelagen, massen, hatten die Häscher Labiels bereits die den Dunkelwald nach Westen begrenzenden Auenlandschaften erreicht und bewegten sich zielstrebig auf das verborgene Herzstück des finsteren Forstes zu. Trotz eines ausgeklügelten Frühwarnsystems mittels eigens zu diesem Zweck abgerichteter Boten-Falken blieb den Bewachern des kostbaren Buches das Zusammenziehen der verhängnisvollen Schlinge, welche Labiel um den wohlsprechenden Teil Ruhlands gelegt hatte, verborgen. Wohl hatten sie auf Weisung der Engelschaft vorsorglich die Wachen um die Pforten des unterirdischen Tempels verdoppelt, sämtliche Schlösser zu den inneren Türen ersetzt und zusätzliche Fallgruben in einem geschlossenen Ring um das Gebiet ihrer geheimen Festung angelegt; einen tatsächlichen Ernstfall konnte sich jedoch keiner dieser Männer vorstellen. Zu lange schon hatten sie keine ernsthafte kriegerische Auseinandersetzung mehr erlebt; zu harmonische Gedanken durchliefen ihre schon seit unzähligen Generationen friedfertigen Gemüter. So verbrachten sie ihre Tage arglos mit Brettspielen und dem Auskosten der neu gewonnenen Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Es erstaunt deshalb nicht, dass ihre Aussenposten völlig unbemerkt vom Rest der Truppe, von einer Blitzaktion des Gegners überwältigt, in ihren eigenen Fallgruben endeten. Wenige Stunden später war die todbringende Schar bereits an den versteckten Pforten des Tempels angelangt und machte sich mit Hilfe von hochsensiblen Spürhunden, denen selbst der geringste je von menschlicher Hand berührte Fleck nicht verborgen blieb, daran das Rätsel des Zugangs zum unterirdischen Labyrinth zu lösen, was in beängstigend geringer Zeit gelang. Den Gefahren der verworrenen Gänge begegneten die unseligen Kämpen mit eigens zu diesem Zweck in langwierigen Ausbildungsprozeduren abgerichteten, handzahmen Fledermäusen, die jegliches von Blut gespiesenes Leben zielstrebig aufspürten. Da der Schatz, wie die Verräter wussten, im Inneren des Tempels von einer Garde der Hüter des Buchs beschützt wurde, gelangten sie mit Hilfe der Vampire zum Ziel ihrer Mission. Nach kurzem Kampf musste sich die an Zahl und Kampfkraft unterlegenen Bewacher geschlagen geben und als die tapferen Männer sich standhaft weigerten, den geheimen Mechanismus der Pforte zur Kammer des Buchs zu verraten, setzten die ruchlosen Diebe sie der Folter einer, in Haiwotsch gehaltenen, lyrischen Darbietung aus, was auch die kühnsten der Hüter trotz verzweifeltem Widerstand zur Aufgabe zwang. So entweihten Labiels Häscher die heilige Kammer, stahlen die Seele der Sprache und vertauschten sie gegen des unseligen Himmelsboten inferiores Machwerk.

Bald schon gelangte die Kunde dieses betrüblichen Schauspiels der Engelschar zu Ohren und löste Bestürzung unter den um das Wohl menschlicher Sprache besorgten Himmelsboten aus. Die Engel hielten einen Krisenstab ab und gelangten dabei wie so oft zum Schluss, Gott persönlich müsse das weitere Vorgehen in dieser gefährlich entgleisten Situation entscheiden. Dieser zeigte sich sehr ungehalten über das eigenmächtige und selbstsüchtige Vorgehen Labiels. Da der oberste Vater aber ein sehr vielbeschäftigter Gott ist, verlor er schon bald das Interesse am Schicksal seiner sprachlich bedrohten Menschenkinder. Er versprach, der Angelegenheit einen Platz auf seiner Pendenzenliste einzuräumen und widmete sich wichtigeren Dingen. Die Engelschaft wagte es nicht, sich dem göttlichen Entscheid zu widersetzten. Auch sie hatte noch anderen Geschöpfen beizustehen und so geriet die menschliche Sprachkrise in himmlische Vergessenheit.

In Ruhland indessen wurden die Leute allmählich unruhig. Ein Hüter des Buches, der auf Grund seiner Schwerhörigkeit die Folter des Ordens ohne bleibende geistige Verwirrung überstanden hatte, deckte den Verrat am göttlichen Wort auf. Die schändliche Kopie wurde umgehend vernichtet; allein, es half nichts. Gleich einer Seuche verbreitete sich der Fehlklang des von Labiels Anhängern in alle Landesteile verbreiteten Haiwotsch. Die Menschen wehrten sich nach Kräften gegen die sprachliche Unterdrückung. Gelehrte zogen sich in Klöster zurück und widmeten sich in ständiger Konversation dem Versuch, das Erlernte vor dem Vergessen zu bewahren. Aber ohne die Macht des Buches verblasste die Erinnerung schnell und als dem für die Leitung der Geschicke Ruhlands in Politik und Wirtschaft verantwortlichen obersten Rat auf Grund sprachlicher Unzulänglichkeiten die ersten folgenschweren Fehlentscheidungen unterlaufen waren, berief dieser eine ausserordentliche Krisensitzung ein. Zweierlei wurde bei den hitzigen, sich auf Grund zahlreicher Missverständnisse über mehrere Tage erstreckenden Debatten klar: Erstens, das Buch musste um jeden Preis wieder in den Besitz Ruhlands geraten, denn die Ruhländische Gesellschaft war in Politik, Wirtschaft und täglichem Leben bereits vollständig auf den Einsatz der Sprache eingespielt und wollte die, wie sie glaubten, doch erhebliche Steigerung ihrer Lebensqualität, welche aus der verbalen Konversation und ihren Anwendungsmöglichkeiten in Literatur und Kunst hervorgingen, um keinen Preis mehr missen. Zweitens war man sich einig, dass Labiel und die Verräter, die ihn umgaben, für immer aus Ruhland verbannt werden mussten, denn der inzwischen netzartig über das gesamte Land verbreitete „Orden des wahren Wortes“ würde jeglicher Normalisierung der grossen Sprachkrise nach Kräften entgegenwirken. Da die Anhängerschaft des gefallenen Engels bereits beträchtliche Ausmasse angenommen hatte und bei mehreren Gelegenheiten ihren Hang zur gewaltsamen Durchsetzung der Interessen des Ordens bewiesen hatte, würde die Vertreibung der Unterdrücker nur mit Waffengewalt bewerkstelligt werden können. Weil die kunstgerechte Führung des Schwertes nicht zu den Stärken der Ruhländer gehörte, setzte sich im Rat der wohl weise Entscheid durch, zuerst die Rückgewinnung des heiligen Buches in die Tat umzusetzen und eine kämpferische Auseinandersetzung mit Labiels Schergen erst nach sorgsamer militärischer Vorbereitung zu wagen. Eine solche Rückholaktion würde keine grosse Truppenstärke, wohl aber eine sorgsam ausgelesene Anzahl mutiger und gewandter Männer erfordern. In streng geheimer Sache machte sich der zu diesem Zweck eigens gebildete Krisenstab des Rates daran, geeignete Kandidaten für diese, die Zukunft Ruhlands in entscheidender Weise prägende Mission zu rekrutieren.

Während sich in Ruhland der Krieg in Gärung befand, schafften unwürdige Hände die Seele der Sprache über das grosse Wasser im Westen auf eine verlassene, von windgepeitschter See umgebene kleine Insel, wo die Festung Ohnwoll über die schroffen Klippen in den stets wolkenverhangenen Himmel ragte. Hier im innersten Geviert dieser gewaltigen Burg, wurde das heilige Buch auf Geheiss Labiels eingemauert. Die Zerstörung der göttlichen Schrift wagte der gefallene Engel nicht, denn auch er war nicht ohne Furcht vor dem Zorn seines Schöpfers. Indes war das Buch hinter den Wällen von Ohnwoll bereits so gut wie verloren, denn der gefährliche Weg über das unruhige West-Meer war für die der Seefahrt praktisch unkundigen Ruhländer, die Mangels kriegerischer Absichten ihre Schiffsbaukunst auf die Fertigung von Fischerbooten beschränkt hatten, ein beinahe unüberwindliches Hindernis. Kam hinzu, dass das kleine, von steilabfallenden Felsen gesäumte Eiland keinen natürlichen Hafen besass und auch von einer geringen Anzahl Männer problemlos selbst gegen eine grosse Übermacht gehalten werden konnte.

Die Zeit aber begann zu drängen, denn die ruhländische Gesellschaft sah sich mit immer grösser werdenden Verständigungsschwierigkeiten konfrontiert. So wurde ein alter Mann in eine Anstalt für geistig Umnachtete eingewiesen, weil er ständig behauptete, von einem höllischen Wahnzeh gepeinigt zu werden. Erst als dem Unglücklichen die Backe bereits auf doppelte Dicke angeschwollen war, bemerkten die Pfleger, dass der bedauernswerte Alte auf sein Zahnweh aufmerksam hatte machen wollen. Des weiteren veranlasste ein wutentbrannter Forstwart, seinen etwas zerstreuten Lehrling nach dessen wiederholter Frage, welche Baumsorten er dieses Jahr für den Weihnachtsmarkt fällen sollte, mit dem Ausruf, „glimmer die Eichen!“ dazu, einen grossen Teil des lokalen Eichenwaldes mit bunt schimmernder Farbe zu bemalen, obwohl er dem Jungen eigentlich bloss „immer die Gleichen“ hatte zurufen wollen und damit den für Weihnachtsbäume vorgesehenen Tannenforst gemeint hatte. Inmitten dieser sprachlichen Verwirrung gelang es dem „Orden des wahren Wortes“ mit Versprechungen von den unbegrenzten Ausdrucksmöglichkeiten des Haiwotsch, zahlreiche, von den chaotischen Zuständen in Ruhland verängstigte, Bürger für seine Sache zu gewinnen.

Damit schien das Schicksal Ruhlands als Spielball von Labiels Machtgelüsten bereits besiegelt. Jedoch war es dem Krisenstab des Rates trotz der sich zuspitzenden Situation gelungen, eine Gruppe von sechs Unerschrockenen zu formieren, die nach kurzen, aber intensiven Vorbereitungen umgehend in ihre Mission der Rückgewinnung des so dringend benötigten, kostbaren Buches entlassen wurde. Gleich Schatten bewegten sich unsere Helden gen Westen zu. Noch unbemerkt von Labiels Schergen sammelten sie in einer verschlafenen Hafenstadt des oberen Trichterrandes, einem Landstrich, welcher dem heute als Algarve bekannten, südlichen Küstenabschnitt Portugals entspricht, ihre Kräfte und machten sich in einer kleinen Jolle auf die entscheidende Etappe ihrer aussichtslos scheinenden Aufgabe. Ihr Plan war es, sich als Boten Labiels, welcher, wie unsere Freunde wussten, zur Zeit im weit abgelegenen nordöstlichen Ruhland weilte, wo er die Bevölkerung im Zeichen seiner „Reise für das heilige Wort“ persönlich von den Vorzügen des Haiwotsch überzeugen wollte, auszugeben. Sie wollten die Burgwachen davon überzeugen, dass die Seele der Sprache einer unmittelbaren Bedrohung durch grosse ruhländische Flottenverbände, welche sich wenige Tagesreisen weiter südöstlich befänden, unterliege und darum umgehend aus den Mauern von Ohnwoll befreit und an einen nur ihrem, von Labiel persönlich auserwählten, Trupp bekannten Ort in Sicherheit gebracht werden müsse. Zum Zwecke des überzeugenden Auftretens hatten sie sich in selbstzerstörerischer Disziplin ein (falls dieser Begriff in diesem Zusammenhang überhaupt trefflich Verwendung finden kann) makelloses Haiwotsch beigebracht und waren daneben mit dem nur an Labiels engste Mitstreiter vergebenem Siegel mit dem „Zeichen der Zahnlücke“ ausgestattet; einem Trumpf, den der Ruhländische Rat mittels riskanter Einschleusung eines Spiones in die oberste Hierarchie des Ordens erlangt hatte und welcher dem Träger weit gehende Vollmachten verschaffte. Mit diesem kühnen Plan und der unbändigen Entschlossenheit, dem verheerenden Treiben des Ordens Einhalt zu gebieten, im Herzen tragend, stachen die Sechs in die unruhige West-See mit Kurs auf die verwunschene Insel. Doch als unsere Helden die Türme von Ohnwoll über die Kämme der tosenden Wogen, die sie umgaben, ragen sahen, sank ihnen der Mut: Furchteinflössend strafte die dunkle Festung jede noch so übertriebene Erzählung von ihren Schrecknissen Lügen und übertraf diese noch. Uneinnehmbar und mächtig stand sie für den Ehrgeiz und die Kälte, mit der Labiel und sein ruchloser Orden der künftigen Welt ihre faule Semantik aufzwingen wollten.

In Sichtweite der Burg hissten sie die Flagge des Ordens und harrten der Anlegeerlaubnis. Nach langem Warten wurde ihnen endlich ein Boot entgegengesandt, das sie zu einer verborgenen Anlegestelle eskortierte. Kaum hatten sie festen Boden unter den Füssen, sahen sie sich von einer bis an die Zähne bewaffneten Truppe der Burgwacht umzingelt. Die Soldaten stellten sie einem unbarmherzigen Kreuzverhör und zeigten kaum mehr als unverholenes Misstrauen gegenüber unseren Freunden. Das „Zeichen der Zahnlücke“ und die dringliche Ermahnung, einer von Labiel persönlich ausgesandten Mission anzugehören, die keinerlei Verzögerung duldete, ermöglichte es den Sechsen jedoch schlussendlich zur Burg geführt zu werden und sich dort Anhörung zu verschaffen. Nachdem sie dem Burgherrn von Ohnwoll, einem feisten Mann mit unergründlichem Blick und einer, selbst für die inzwischen geschulten Ohren unserer Helden, schwer verständlichen Aussprache ihr Anliegen vorgebracht hatten, zeigte sich dieser von vordergründiger Freundlichkeit, liess aber unmissverständlich durchblicken, dass er eine Anordnung von solcher Tragweite nur von Labiel persönlich entgegenzunehmen bereit wäre. Nur die unnachgiebige Versicherung der höchsten Dringlichkeit der Sache und die Androhung, der Vater des Haiwotsch würde ihm persönlich die Zunge herausreissen, falls er das kostbare Buch in die Hände des Feindes fallen liesse, stimmten den misstrauischen Mann allmählich um. So gelang es den listigen Ruhländern ganz ohne Kampf wieder in den Besitz des heiligen Buches zu gelangen.

Nachdem die siegesfreudigen Sechs die unbewohnten Wälder im Westen Ruhlands hinter sich gelassen hatten und in die fruchtbaren Ebenen ihrer geliebten Heimat zurückgekehrt waren, fanden sie zu ihrer Bestürzung anarchische Verhältnisse vor: Das öffentliche Leben war durch eine Kette von Missverständnissen ausser Rand und Band geraten. Die vor nicht allzu langer Zeit von der gesprochenen Sprache noch unabhängigen Ruhländer hatten sowohl ihre Tradition der visuellen Kommunikation vergessen, als auch die Fähigkeit, die das öffentliche Leben nun vollständig bestimmende Sprache kontrollieren zu können, verloren. Die Menschen misstrauten einander, da sie selbst ihre besten Freunde nicht mehr beim Wort nehmen konnten und jeder wurde sich selbst der Nächste. Viele zogen sich in ihren Häusern von der Welt zurück; andere liefen, in wilder Panik unverständliche Wortfetzen verkündend, durch die Strassen der Städte und Dörfer. In den verlassenen Hallen des grossen Rates fanden sich einzig eine Hand voll Obdachloser, die hier einen komfortablen Wetterschutz gefunden hatten. Viele Ruhländer hatten sich ins immerhin verständliche Haiwotsch geflüchtet und wahren dem Orden gefolgt, der inzwischen die nördlichen Landesteile mit seinen Anhängern besiedelt hatte. Die von solch unerwarteten Schrecknissen wie gelähmten Freunde versuchten sich Klarheit über die Lage zu verschaffen: Der ursprüngliche Plan des Rates, den Orden mit Waffengewalt aus Ruhland zu vertreiben war zum Scheitern verurteilt, denn mangels verständlicher Befehle war das im Aufbau begriffene ruhländische Heer schon bald auseinandergebrochen. Nahe der Verzweiflung wurden unsere Helden plötzlich der Tatsache gewahr, dass sie sich nicht mehr in Haiwotsch unterhalten mussten, um sich zu verstehen, wie sie dies in den vergangenen Monaten getan hatten, sondern in der schon verloren geglaubten, wohlklingenden Sprache glücklicherer Tage parlieren konnten. Es musste die heilende Ausstrahlung des Buches sein, welches sich nun seit einigen Wochen in ihrem Besitz befand.

Das Buch war ohne schützende Macht in grosser Gefahr und so einigten sich die Sechs darauf, die Seele der Sprache in ein entlegenes Kloster zu bringen, von dem sie wussten, dass es eine kleine Zahl unerschrockener und unermüdlicher Mönche beherbergte, welche sich dem Verlust des Wortes nie gebeugt hatten und sich in beinahe ununterbrochenen, nächtelangen Diskussionen einen Grossteil der alten Sprache erhalten hatten. Hier würden sie verstehende Ohren und Herzen finden, hier wäre der richtige Ort, das heilige Buch zu bergen. Von diesem verlassenen Ort in den schneebedeckten Bergen des südlich gelegenen Rauhlands, einem auf Grund seiner unwirtlichen klimatischen Verhältnisse in Vergessenheit geratenen Teil Ruhlands, würde das Werk seine heilende Wirkung auf die Sprache der Menschen verbreiten. Die Rettung von Wort und Schrift würde langsam aber unausweichlich stattfinden.

Als unsere Freunde nach langer und beschwerlicher Reise den verborgenen Hort der ungebeugten Mönche erreicht hatten, gewährte man ihnen dort, nachdem sie ihre edle Absicht kund getan hatten, ohne Zögern und mit grosser Ehrfurcht Einlass und Unterkunft. Fernab vom chaotischen Treiben des Unterlandes harrten die sechs hier ihrer grossen Aufgabe und hüteten das Buch der Bücher mit grosser Hingabe und Ausdauer. Um ihr langes Warten sinnvoll zu nutzen, begannen sie damit, in akribischer Arbeit sämtliche der oft vollständig verdrehten sprachlichen Entgleisungen ihrer bedauernswert verworrenen ruhländischen Schwestern und Brüder, welche ihnen im Verlauf ihrer Mission zu Ohren gekommen waren, in einer Liste fest zu halten und diese mit Erklärungen zu versehen, um künftigen Missverständnissen vorzubeugen. So entstand die Liste.

Der Wohlklang der Sprache breitete sich wie ein wärmender Frühsommerwind über Ruhland und die wachsende Zahl der Menschen aus, welche sich dabei ertappten, seit langem endlich wieder einmal etwas tatsächlich sinnvolles über ihre Lippen gebracht zu haben. Labiel und seiner Anhängerschaft nahmen diese in ihren Augen unverständliche Entwicklung beunruhigt zur Kenntnis, aber erst nachdem ein Schreiben aus Ohnwoll, in dem der dortige Burgherr die Freigabe der Seele der Sprache bestätigte, den unseligen Himmelsboten erreicht hatte, begann er das Geschehene zu ahnen, liess seinen fehlerhaften Untergebenen, in leichter Abweichung der Prophezeiung unserer Freunde, zur Strafe 3 Tage und Nächte lang die schlimmsten haiwotsch’en Zungenbrecher ohne Unterbruch aufsagen und scheute keine Mittel bei der fieberhaften Suchaktion nach dem so kostbaren Buch, welche er nun in Gange setzte. Allein die Menschen wurden ob dem Wohlklang der neu aufblühenden Sprache gewahr, wie überdrüssig sie des so unanhörlichen Haiwotsch geworden waren und Protestkundgebungen gegen den Orden und seinen Herrscher begannen in zahlreichen Landesteilen wie Pilze aus dem Boden zu schiessen. Der grosse Rat formierte sich von Neuem und obwohl er keine Nachricht von seiner einstmals ausgesandten Mission erhielt, begann er den möglichen Erfolg seines kleinen Stosstrupps zu ahnen. Ruhland erstarkte in einem zweiten Frühling der Sprache und die Anhänger des Haiwotsch verloren zusehends an Zahl und Einfluss.

Zu diesem äusserst bewegten Zeitpunkt seiner Geschichte erlangte Ruhland unverhofft himmlische Aufmerksamkeit. Langsam aber unbeirrbar waren die Geschicke seiner Bewohner auf der göttlichen Pendenzenliste nachgerückt und als der himmlische Vater erblickte, wie tapfer diese Menschenkinder den Unbill, welcher sein gefallener Engel über sie gebracht hatte, trotzten, da erfüllte ihn dies mit Wohlwollen und er beschloss, dem Gedeih ihrer Bemühungen ein klein wenig nachzuhelfen, indem er Labiel dem Ungemach himmlischen Logopädie-Unterrichts zuführte und die Ruhländer so von ihrem schlimmsten Unterdrücker befreite.

Unsere sechs Helden wurden vom grossen Rat unter frenetischem Beifall der Massen zu Rittern der Liste geschlagen; sie widmeten ihre bescheidene Existenz von nun an dem Schutze und der Ergänzung der Liste, auf das künftig niemand mehr am Sinn der Worte zweifle. Was die Seele der Sprache anbelangt, so hat sie inzwischen unzählige und vielfältigste Ableger geschaffen und obwohl das kostbare Buch schon vor langer Zeit zu Staub zerfallen ist, sind die Wörter welche sich aus ihm unter die Menschen verteilt haben immer mehr geworden und die Sprache hat auf den entlegensten Flecken dieses grünblauen Planeten genannt Erde ihre Blüten getrieben.



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