Liste und Legende aus heutiger Sicht

Noch heute sind sich anerkannte Linguisten auf der ganzen Welt uneins, was es mit Der Liste auf sich hat: Wann wurde ihr Grundstein gesetzt, wer hat sie erschaffen und wohin wird sie uns führen? Das einzige, das wir mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass Die Liste bezüglich diesen Fragen ein Mysterium geblieben ist, welches auch mit den neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften und Forschungen noch nicht aus dem undurchsichtigen Nebel ans Licht gezogen werden konnte. Ob es der allgemeine Drang der Menschheit ist, jedes Geheimnis analysieren zu müssen, bis es keines mehr ist, oder ob wir die Hoffnung haben, mit Der Liste den Sinn unserer Existenz endgültig zu ergründen, das sind Fragen der Ontologie und der Metaphysik. Anerkannte Philologen, Sprachpsychologen und -philosophen sind sich jedenfalls in dieser Frage einig, dass Die Liste ein Markstein in der Sprachhistorik ist, der einen gewaltigen Einfluss auf Semantik und Rhetorik der indogermanischen Sprachen hatte und immer noch hat.

Neuen Wind in diese nicht kühler werdenden Diskussionen brachte ein kürzlich im nördlichen Schottland entdecktes sine-anno-Dokument, welches momentan überall besprochen wird: In Universitäten, Lesegesellschaften, namhaften Zeitungen und natürlich unter den Wissenschaftlern. Es ist dies ein Dokument mit dem Titel "Die Legende der Liste", welches - zu voreilig - als Fanal präsentierte wurde. Was sich bereits herauskristallisierte, ist, dass es sich hierbei um ein Schriftstück handelt, welches von einem unbekannten Autor deutscher Herkunft zur Zeit des Frühbarock verfasst wurde, aber über die Jahrhunderte umgeschrieben, verändert, erweitert wurde. Doch ist das wenig im Vergleich zu den vielen offenen Fragen, zum Beispiel wie die Legende in das historische Archiv der Gemeindeverwaltung zu Wick gekommen ist.

Die Legende versucht vor allem mittels biblischem Brimborium zu verkünden, dass die Sprache - genauso wie die menschliche Existenz, was wir aus der Bibel selbst zur Genüge wissen - ein Geschenk Gottes ist, auf welches achtgegeben werden muss. So sendet Gott Engel aus, um die Menschen von Ruhland - ein offenbar vorzeitlicher Menschenschlag - dieses Geschenk schätzen lernen zu lassen. Dies offenbar nur, um seinen egozentrischen Wunsch zu erfüllen, seine ihm huldigenden Kreaturen in tiefster Hingabe "Ich liebe Dich" sagen zu hören. Sehr geschickt wählt der Autor hier die Zahl der ausgesandten Engel. 27 sind es, wobei einer von ihnen - Labiel, durch dessen negative Beschreibung sich im Laufe der Zeit wahrscheinlich die "Labilität" entwickelte - einen Sprachfehler hat. Bei Labiel hatte der Schreiber wohl ursprünglich den Erzengel Gabriel vor Augen, der in der Bibel ein Himmelsbote, ein Verkünder guter Botschaften ist. Gabriel hilft zur innerlichen Reinigung, wirkt inspirierend und lässt neue heilsame Ideen aufkeimen. Deshalb wird er auch oft mit einer weissen Lilie dargestellt. Labiel ist somit quasi ein Widersacher Gabriels, wie der Teufel ein Widersacher Gottes und ein Verführer der Menschheit ist. Das Gute und die Gefahr kommen also auch hier von aussen, sind dabei aber ein weiteres Mal Bilder für den inneren Kampf, das Ringen im Menschen.
Das lateinische Alphabet hat 26 Buchstaben, wovon 5 Vokale und der Rest Konsonanten sind. Es ist also anzunehmen, dass Labiel symbolisch für einen Buchstaben steht, der in der Geschichte der Sprachentwicklung zu Missverständnissen bis hin zum heillosen Chaos führte. Wie ein Virus, der ein ganzes System zum Erliegen bringt. Das "Haiwotsch", die gotteslästernde Sprachverunreinigung, disseminiert sich in der Legende denn auch als infizierende Krankheit durch die zerfallende Gemeinschaft der Ruhländer. Zuerst erscheint die Situation wie eine Prüfung Gottes und ein Vergleich mit dem Turm zu Babel (1 Moses 11 A.T.) drängt sich auf, doch wir lesen weiter, dass Gott und die 26 Engel sich von den Ruhländern abwenden und sie ihrem Schicksal überlassen. Nur dank einer, einmal mehr bezeichnenderweise kleinen Gruppe von selbstlosen Helden, führt die Legende denn auch auf ein glückliches Ende zu: Labiel wird in den Himmel zurück befohlen und das Buch der Sprache gelangt in den Verwahrsam der Ruhländer.

Was hat nun die Legende der Liste mit uns zu tun? Mit uns, den Kindern des Humanismus, der Aufklärung. Mit uns, den geistigen Nachkommen von Grotius, Locke, Hume und Newton, von Voltaire und Lessing. Ein Naturwissenschaftler kann Legenden oder Heilige Schriften nicht als Richtlinie für seine Forschungen in Betracht ziehen. Er muss mittels Beobachtungen und Modellen sein Wissen erweitern. Was aber macht der Sprachwissenschaftler?

Die Sprache ist die conditio humana schlechthin. Jedoch wissen wir quasi nichts über ihren Ursprung. Durch die Archäologie wurde vieles aus den vergangenen Zeiten ans Licht gebracht. Gefundene Werkzeuge, Kultgegenstände, Waffen oder Schädel und Knochen haben uns geholfen, weitere Puzzle-Stücke in die grosse Fläche der Menschengeschichte einzusetzen. Da die Sprache aber ein Abstraktum und nichts Materielles ist, konnte natürlich zu ihr selbst nichts ausgegraben werden. Gab es eine Ursprache? Hatten die ersten Menschen bereits Lautsprachen, mit denen sie untereinander kommunizieren konnten? Waren sie sich bereits bewusst, dass durch Vertauschung gewisser Wortteile oder Silben ein völlig neues Wort mit ganz anderer Bedeutung entstehen konnte?

In der Wissenschaft gibt es verschiedene Theorien zur Erschaffung der Sprache:

Wundertheorie: Die Sprache wurde von Gott erfunden und den Menschen übergeben. Die Legende der Liste ist ein gutes Beispiel für diese Theorie. Allerdings haben wir es hier mit einer klar religiösen Auffassung zu tun, die nur in religionsgeschichtlichem Umfeld zu diskutieren wäre.

Erfindungstheorie: Nach einer sprachlosen Zeit zu Beginn der Menschheit, wurde eine Lautsprache unabdingbar, so dass die Menschheit die Sprache selbst erfunden hat. Das ist eher eine Verlegenheitslösung. Natürlich können Menschen Sprachen erfinden. Nur erfinden diese Menschen nicht die Sprache an sich, sondern eine jeweils besondere Sprache, und klare Voraussetzung für ihre Erfindung ist, dass sie bereits sprechen können.

Nachahmungstheorie: In der Umgebung des Menschen sind die verschiedensten Geräusche zu hören. Regen prasselt, Hähne krähen, Hunde bellen. Die Menschen ahmen diese Geräusche nach, um die mit ihnen verbundenen Sachverhalte und Objekte zu bezeichnen. Tatsächlich gibt es solche lautmalenden Wörter, Onomatopoetika genannt. Nur fällt zweierlei auf: Erstens wird sich das Krähen französischer und deutscher Hähne kaum unterscheiden, hingegen unterscheiden sich die lautmalerischen Bezeichnungen beider Sprachen deutlich. Zweitens gibt es in allen Sprachen nur so wenige Onomatopoetika, dass sich aus ihnen die Entwicklung des Lautinventars und des Wortschatzes nicht erklären liesse.

Naturlauttheorie: Der Mensch produziert spontane Ausrufe, Interjektionen. Diese bilden den Ausgangspunkt sinnerfüllter Lauterzeugnisse. Hier gilt die gleiche Kritik, wie bei der Nachahmungstheorie. Denken wir an den Deutschen, der schmerzerfüllt "au" schreit und an den Italiener, von dem wir in gleicher Situation "ai" hören.

Reaktionstheorie: Im Grunde eine Variante der Naturlauttheorie. Auf Reize der Umgebung wird spontan, im weitesten Sinne nachbildend, reagiert. So soll "Mama" auf die Lippenbewegung des Säuglings vor dem Stillen zurückzuführen sein.

Kontakttheorie: Sprache basiert auf einem allgemeinen Kontaktbedürfnis. Dieses führt zum Zuruf, zur Liebesbekundung, zum gemeinsamen Gesang. Arbeits- und Werkzeugtheorien: Die bürgerliche Variante: Sprache ist aus rhythmischen Lautierungen bei der gemeinsamen Arbeit entstanden. Die marxistische Variante: Werkzeugherstellung und Werkzeuggebrauch bedingen Arbeitsteilung und Tradierung, damit auch Sprache. Die Entwicklung des Werkzeugs ist nicht von der Entwicklung der Sprache zu trennen.

Wenn auch keine dieser Theorien wirklich überzeugen kann, so gibt es doch wenigstens verschiedene Theorien zur Sprachentwicklung. Zur Entstehung Der Liste gibt es aber nur die Legende, also eine Wundertheorie. Somit sind wir wieder am Ausgangspunkt.

Die vorliegende Liste mit ihren über zweitausend, stetig wachsenden Beispielsbegriffen ist ein Beweis für die unglaubliche Diversität der Sprache an sich. Es darf davon ausgegangen werden, dass die aufgeführten Begriffe nur das Postament einer sehr hohen Anzahl von Möglichkeiten sind, die der - in diesem Fall - deutschen Sprache innewohnen. Wir dürfen aber annehmen, dass auch in anderen Ländern, die eine vokal- und konsonantenträchtige Sprache haben, solche Listen erstellt und bearbeitet wurden bzw. werden! Das in typisch britischem Humor geschriebene "From the hip to the ground or From the grip to the hound - An exercise in linguistical imagination" ist ein Beweis dafür, dass sich die Briten ihrer Sprachmöglichkeiten ebenso bewusst sind, wie die deutschsprachigen Völker.

Die Begründer oder Entwickler der Liste gingen nicht anagrammatisch vor. Sie nahmen einzelne Wörter oder Sätze nicht in ihre Grundeinheiten auseinander, um sie anschliessend so zu kombinieren, dass es ein völlig neues Wort, bzw. einen völlig neuen Satz ergab. Das Anagramm war sowieso nur als Wortspiel oder für die Bildung von Decknamen gedacht. Die Liste hingegen scheint mehr als eine Richtung spielerische Wissenschaft gehende Forschung, die aufzeigen möchte, dass aus banalen Wörtern und Sätzen, die in der realen Welt jeden Tag gebraucht werden, durch simple Vertauschung eine völlig neue Welt entstehen kann. So wird aus einem sterbenden Wurm plötzlich ein starker Wind, der durch planmässige Beeinflussung versucht, zu einem bestimmten Verhalten anzuregen. Die Salzgewinnung entwickelt sich zur Ideologie einer Druckmaschine und der Dampf einer mit Kohlen betriebenen Maschine lässt sich durchaus als aktiver Aufstand einer Kraftübertragungsvorrichtung, die mit europäischen Rabenvögeln angetrieben wird, lesen. Bereits diese drei Beispiele zeigen, dass hinter unserer Alltagskonversation eine reichhaltige Welt der Phantasie liegt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden. So gesehen ist Die Liste als durchwegs positiv zu betrachten, was der Auffassung des unbekannten Autors der Legende wohlwissend widerspricht. Dieser schrieb nämlich, ganz im Einklang mit dem konservativen, religiösen Zeitgeist seiner Ära, von "verdrehten sprachlichen Entgleisungen". Vielleicht steckt in der Liste ein Code, der geknackt werden muss, um die Menschheit in ein neues Zeitalter zu lenken, ein Zeitalter, das eine hochentwickelte Sprache mit der ruhländischen Friedlichkeit vereint. Noch sind wir am Anfang des dunklen Tunnels, doch wir sind zuversichtlich mit unseren Forschungsarbeiten, denn wir hoffen, dass uns am anderen Ende, nach einer Zeit der Dunkelheit, das Licht neuer Erkenntnis empfangen wird.



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